Published at: 05:03 pm - Dienstag März 09 2010
Wenn man fragt, „Was ist eine Passage?“, so wird man wohl zuerst keine Antwort, sondern vielmehr eine Gegenfrage erhalten, die etwa lauten wird: „In welchem Zusammenhang?“.
Eine Passage als Solches ist vollkommen abstrakt. Erst wenn wir sie in einen Kontext bringen, beziehungsweise in einem solchen verwenden, können wir eindeutig sagen, worum es sich handelt. Wie konkret diese Vorstellung ist und wie sie aussieht, hängt allerdings oft nicht nur davon ab, um welche Art von Passage es sich handelt, sondern auch von demjenigen selbst, der sich das Bild formt. Welche vielfältigen Gesichter Passagen haben können und welche Vielzahl an Eigenschaften man mit ihnen verbinden kann, davon können Sie im Folgenden lesen und vielleicht achten Sie einmal ganz bewusst darauf, welches konkrete Bild sie jeweils vor Ihrem geistigen Auge haben.
München. Es ist überstanden. Ein letztes Mal höre ich die maschinenfreundliche Frauenstimme, die mir zu verstehen gibt „Karlsplatz, Stachus – Bitte links aussteigen.“. Ich schiebe mich an den Menschen vorbei zur Tür. Auf ein mir unbekanntes Kommando hin strömen gefühlte 100 Leute scheinbar gleichzeitig durch die keine zwei Meter breite Tür und ich werde mit getrieben. Jetzt teilt sich der Strom. Mir bleibt wenig Zeit. Schnell erkenne ich: Ich muss nach oben. Den reißenden Fluss aus U-Bahngängern durchquere ich nun spielend. Kampferprobt. Die Rolltreppe stellt die nächste Lebensbedrohung dar. Ich sage mir immer wieder im Kopf: „Rechts stehen, links gehen“. Dieses Mantra hilft allerdings nur bedingt, wenn die beladenen Packesel an den Stehenden vorbeistürmen. Vielleicht sollte man die Fahrgeschwindigkeit erhöhen. Das Ende der Rolltreppe ist erreicht. Ich bin unversehrt. Jetzt heißt es wieder schnell sein. Menschen strömen aus allen Richtungen zum nächsten Durchgang. Ein Wunder, dass niemand gegen die, wie ich sie nenne, „Massenteiler“ rennt. Metallböcke, die den Ein- und Ausgang zu S- und U-Bahn in Reihen teilen.
Ich bin immer noch unter der Erde. Wahrscheinlich ist das das Geheimnis der Großstädte. Stapeln: Menschen, Erde, Menschen, wieder Erde und wieder Menschen. Mit der nächsten Rolltreppe gelange ich zur nächsten Schicht Menschen. Hinter weiteren Rolltreppen erkenne ich Tageslicht. Kaum jemand scheint sich vorstellen zu können selbst nach oben zu laufen. Oder nach unten. Hoffen wir, dass die Rolltreppen ewig fahren. Ich sehe mich um.
Unter der Stadt scheint eine weitere Stadt entstanden zu sein. Ich lese auf einem großen Banner „Stachus Einkaufspassagen“. Sicher erwartete ich in der Innenstadt eine Einkaufsstraße, jedoch scheinen hier die Geschäfte zu den Kunden gekommen zu sein. Direkt aus der S-Bahn in den Laden. Praktisch. Kein Entkommen für den potentiellen Kunden. Das Angebot ist vielfältig. Ich habe noch etwas Zeit und beschließe mir das größte Kaufhaus anzusehen. Es ist das erste Geschäft, das mich mit großen Eingangstüren willkommen heißt. Ich finde mich in einer Feinkostabteilung wieder. Uninteressant. Über Stufen gelange ich in den Haushaltswarenbereich. Auch nicht gerade meine Lieblingsabteilung. Aus den nicht vorhandenen Fenstern schließe ich, immer noch unter der Erde zu sein. Ich suche eine Rolltreppe. Bisher hat mich eine solche immer wieder zum Tageslicht geführt. Gefunden. Hier stürmen weniger Menschen an mir vorbei. Scheint auch unmöglich. Vor und hinter mir Packesel mit vollen Taschen. Oben angekommen suche ich auf einer Tafel die Technikabteilung. Gefunden. Ich muss weiter nach oben. Drei Rolltreppen später sehe ich einmal hinunter. Nichts für schwache Nerven. Endlich angekommen laufe ich im Zick-Zack durch die Regalreihen. Ich will nichts kaufen, mich nur informieren. Das andere Ende des Kaufhauses sehe ich nicht. Die Neugier schickt mich auf Entdeckungstour. Plötzlich stoße ich auf drei kleine Stufen und ich finde mich erneut in einer Haushaltswarenabteilung wieder. Irritiert behalte ich mein Ziel im Auge und stehe schließlich vor einer Wand.
Ich sehe auf die Uhr. Jetzt aber schnell. Ich halte nach einem alten Freund Ausschau und werde fündig. Die nächste Rolltreppe bringt mich nach unten. Immer weiter nach unten. Wieder im Untergeschoss angekommen suche ich die Tür. Gefunden, dank Beschilderung. Ich versuche, mich zu orientieren. Schilder. „Zu den Zügen“ lese ich. Nach einigen weiteren prüfenden Blicken ist klar: Ich bin am Hauptbahnhof. Meinem Ausgangspunkt. Ich mache mich wieder auf den Weg zur S-Bahn und beschließe in Zukunft Passagen zum Einkaufen zu meiden und mich an Straßen zu halten. Ist sicherer.
Passagen können Teil unseres Weges sein. Sie verbinden eine Station mit der nächsten, auch wenn sie uns nicht immer dorthin führen müssen, wohin wir es vermuten, oder wenn ihr Ende uns gar unbekannt ist. Manche gelten als gefährlich, andere als irritierend und wieder andere zeichnen ein traumhaftes Bild in jedem Reisebericht.
Es weht kaum Wind. Alles, was man hört, sind die Hufe der Pferde und das Scheppern des Karrens, den sie ziehen. Der Wagen ist mit Heu beladen und eine Decke verhindert, dass es vom Fahrtwind verstreut wird.
Vorn steht ein Bauer. Er trägt ein rotes Gewand, hat eine bestickte Kappe auf dem Kopf und treibt sein braunes Zugpferd mit der Peitsche voran. Die Zügel sind an den Karren gebunden und sein Hund folgt ihm. Dieser hat ein weißes Fell mit schwarzen Flecken und reicht dem Wagen gerade bis zur hinteren Achse. Der Untergrund ist uneben und rutschig, wohl vom Regen der letzten Nacht. Spuren anderer Wagen lassen erkennen, dass der Weg oft befahren wird. Das Gras an beiden Seiten wuchert. Immer noch ist der Himmel mit Wolken bedeckt.
Zur Linken des Bauers stehen kleine Bäume Spalier, dahinter sind ein Fluss und ein Fischerhaus zu erahnen, doch der Bauer achtet nicht mehr darauf. Auf dem engen Weg kommt ein Vierspänner mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu. Das Zaumzeug der Pferde ist mit runden Abzeichen verziert. Es ist eine Art Planwagen, der von zwei Männern geführt wird, wovon der eine einen grünen und der andere einen weiß-grauen Mantel trägt. Beiden sitzt eine Pelzmütze auf dem Kopf und sie tragen einen Schnauzbart. Die Gefährte müssen einander ausweichen. Eines der Pferde des Vierspänners dreht seinen Kopf zum Wagen des Bauern. Das Pferd des Bauern scheut.
Hinter der zweiten Kutsche ist ein Hof erkennbar. Ein großes mit Stroh bedecktes Haus steht im Hintergrund, davor ein großer Heuhaufen. Das gesamte Grundstück scheint eingezäunt, mit einer blickdichten Holz- und Strohkonstruktion.
Jozef von Brandt – Schwierige Passage (um 1855)
So kann eine Passage einen Durchgang beschreiben, wie es auch die Wortherkunft aus dem Französischen definiert. Doch vielfältiger noch als es Passagen dieser Art sind, sind es jene, die im deutschen Sprachgebrauch mindestens genauso häufig vertreten sind. Die, in die sich zum Beispiel die Bücher der Welt teilen.
Die Passagen in einem einzigen Buch können so viele unterschiedliche Facetten haben, dass sich allein mit ihnen eine Geschichte erzählen lässt. Sie lassen uns nachdenken, sie begeistern uns, sie lassen uns trauern oder entführen uns in eine phantastische Welt. So hat jede Passage etwas ihr Eigenes, im selben Buch und über alle anderen Bücher hinweg. Doch ist eine solche Passage nur ein Puzzleteil. Ohne die Teile drum herum fehlt etwas und ohne diesen Rahmen kommt es leicht zu Fehlinterpretationen.
Simon: „Schon wieder ein Anschlag im Irak. Ich glaube das hört nie auf. Aber ist ja auch kein Wunder, so wie das abläuft, kann es ja nicht gut gehen.“
Peter: „Wie meinst du das?“
Simon: „Naja, in einem muslimischen Land, deren Glaubensgemeinschaften ja unter sich schon fast Krieg führen, versuchen Christen, Frieden zu schaffen. Ist das nicht paradox? Vor allem, wenn man einmal den einen oder anderen Blick in den Koran wirft und dessen Meinung zu Menschen anderer Religionen liest.“
Peter: „Du hast den Koran gelesen? Das wäre mir neu.“
Simon: „Nein, nicht im Ganzen, aber die Passagen, die ich gelesen habe, reichen mir vollkommen. Letztens bin ich beispielsweise auf eine eben solche gestoßen. Es hieß etwa so in der Art: ‚Gläubige‘, also Muslime, ‚nehmen weder Juden noch Christen zum Freund‘. Sure 5 Abschnitt 51, wenn ich mich nicht irre.“
Peter: „Lass mich raten. Das hast du aus dem Internet?“
Simon: „Ja, aber es stand so auf verschiedensten Seiten geschrieben. Egal ob halboffizielle Übersetzung oder als Zitat.“
Peter: „Das mag wohl sein, aber lass mich dich dennoch eines Besseren belehren. Der Haken in deinem Zitat ist das Wort ‚Freund‘. Wenn man den Koran als Ganzes betrachtet und nicht nur einzelne Passagen übersetzt, dann wird man immer wieder auf, ich möchte es mal Warnungen nennen, was Christen und Juden betrifft, stoßen. Andererseits liest man aber auch davon, dass Christen und Juden auch ‚Menschen des Buches Gottes‘ sind und sogar Hochzeiten zwischen männlichen Muslimen und christlichen oder jüdischen Frauen erlaubt sind. Dem Koran geht es darum, dass nur Muslime sozusagen den direkten Draht zu Allah haben und sich nicht von Juden oder Christen beeinflussen lassen sollen. So meint auch das in deinem Zitat fälschlicher Weise als ‚Freund‘ übersetzte Wort eher ‚Führer‘ bzw. ‚Beschützer‘, wie es auch an anderen Stellen zu lesen ist. Ein Muslim soll sich also weder von einem Christen noch einem Juden führen oder – anders gesagt – verleiten lassen.“
Simon: „Das wirft natürlich ein ganz anderes Licht auf die Sache. Ich meine, in der Bibel steht es nicht anders über die Christen. Zumindest was den ‚einzig wahren Gott‘ angeht.“
Peter: „Richtig, und was mit dem Koran gern betrieben wird, kann man genauso mit der Bibel machen, wie es auch viele Sekten tun: Einzelne Passagen herausnehmen, den Kontext verändern oder gar einzelne Wörter neu ‚übersetzen‘, um eine Aussage zu erhalten, die in das jeweilige Gesamtkonzept passt.“
Simon: „Das stimmt. Vor allem was im Alten-Testament stellenweise zu lesen ist, lässt jedem die Haare zu Berge stehen.“
Peter: „Eben. Die Bibel ist nicht weniger gewalttätig als der Koran, allerdings hat der Mensch in der westlichen Welt bereits begonnen, selbst zu denken, und lässt sich nicht von Glaubensführern alles diktieren. Sicher gibt es auch eben solche Moslems und diese kapern auch keine Flugzeuge oder sprengen Menschen in die Luft. Was man aktuell sieht, ist nichts anderes als ein moderner Kreuzzug. Doch ich bin davon überzeugt, dass mit der Freiheit auch die Erkenntnis kommt und so eines Tages ein friedliches Miteinander möglich ist – egal ob mit oder ohne Religion.“
Simon: „Wollen wir hoffen, dass du recht behältst.“
Passagen sind zumeist Teil von etwas Größerem, etwas, dass sie umgibt und ihren eigentlichen Sinn und Zweck erkennen lässt. Ohne das sind sie mehr oder minder ein Spielzeug in den Händen desjenigen, der sie aus ihrem Zusammenhang gerissen hat und ihnen einen neuen Anfang und ein neues Ende gibt.
Es gibt jedoch auch Passagen, auf deren Anfang und Ende selbst der Mensch kaum Einfluss nehmen kann. Es sind die Passagen all jener Kreisläufe, wie wir sie in der Natur mannigfaltig finden. So folgt auf die Winterzeit aus Eis und Schnee stets die blühende Passage des Frühlings, gefolgt von Sommer und Herbst. Verbunden damit spielt sich auch der Kreislauf der Natur ab, von der uns jede Passage immer wieder aufs Neue in ihren Bann zieht, auch wenn wir sie schon 80, 90 oder gar 100 Male miterlebt haben.
Blätter fallen segeln langsam
wie es geschieht ein jedes Jahr
nähern stetig sich und schweigsam
Mutter Erde die sie gebar
trägt auch der Wind sie weiter fort
wohin er nicht verraten mag
begrüßen sie an diesem Ort
auch freudig jeden neuen Tag
wissentlich dass sie vergehen
und wohl wissend ohne Halt
sie strahlend in die Zukunft sehen
die neues bringt und das schon bald
bis sie sind nicht mehr gewesen
wurden selbst zur Erden Mutter
spürten noch so manchen Besen
oder war’n der Tiere Futter
speisen sie doch irgendwann
wenn das Frühjahr sich bequemt
Bäume die wachsen wie ein Mann
woran sich dieser später lehnt
und sprießen dann nach Jahr und Tag
wieder Blätter von genanntem
der Kreislauf sich wohl schließen mag
selbst wenn Menschen ihn verbrannten.
„Selbst wenn Menschen ihn verbrannten.“ Diese letzte Zeile bringt es noch einmal auf den Punkt. Nicht über jede Passage oder Abfolge eben solcher, ist der Mensch erhaben. Selbst bei denen, die er scheinbar selbst schreibt, ist er nicht der alleinige Autor und vor allem, was Anfang und Ende angeht, eher ein Pendel, das von außen angestoßen wird.
Die Passagen von denen ich hier spreche, sind die, in die sich unser Leben teilt. Abschnitte, die wir auf Grund von Ereignissen oder Entscheidungen, seien sie von uns oder auch von anderen bedingt oder gefällt worden, einteilen können, mit Anfang wie auch Ende. Das Besondere an diesen Passsagen ist nicht nur ihre Vielfalt und Lebendigkeit, sondern auch ihre Vergänglichkeit auf der einen Seite und der Einfluss auf alle folgenden Passagen auf der anderen Seite. Wir können zu keinem Abschnitt unseres Lebens zurückspringen, auch wenn wir es oft gerne wollten, aber dennoch hat eine jede uns geprägt und spiegelt sich auf die eine oder andere Art in der aktuellen Passage unseres Lebens wieder.
Herr Winzel ist arbeitslos. Vor gut einem Monat hat er seinen Job verloren. Er war Abteilungsleiter in einer Elektromarktkette. Zu alt, hieß es inoffiziell, man bräuchte frischen Wind, um neue Kunden zu gewinnen. Für sein frühzeitiges Ausscheiden hatte er eine ordentliche Abfindung kassiert: 30.000Euro. Er hätte mehr herausholen können, hatte aber am Ende einfach keinen Nerv mehr und die Papiere unterschrieben. Anfangs war er sich nicht sicher, ob es vielleicht gar nicht so schlecht für ihn wäre. Viel Freizeit, etwas Geld auf der Seite, kein Stress, doch schon noch einer Woche hatte er gemerkt, dass das kein Leben für ihn war. Ihm fehlte die Aufgabe. Der Grund, jeden Morgen aufzustehen, und das Gefühl, etwas zu leisten. Rund 15 Jahre hatte er in dem Betrieb gearbeitet und war aufgestiegen. Jetzt durfte er wieder ganz unten anfangen, wenn sich überhaupt ein Anfang ergeben würde. Auf dem Arbeitsamt hatte man ihm keine großen Hoffnungen gemacht – in seinem Alter: 46 Jahre. „Bin ich wirklich schon so alt?“ fragte er sich.
Er saß an seinem Schreibtisch, der PC war eingeschaltet und das Schreibprogramm wartete auf seine Eingabe. Der Briefkopf war bereits getippt – Vorlage vom Arbeitsamt. Den Lebenslauf hatte er nur ergänzen müssen. Es hatte sich nicht viel getan in den letzten 15 Jahren. Neben sich hatte er auf einem Block zehn Stellenanzeigen herausgeschrieben. Es war alles dabei: Vom Kassierer in einem Lebensmitteldiscounter bis zum Straßenfeger. Sogar als Koch, was er ursprünglich gelernt hatte. Er ging die Liste durch. „Will ich das überhaupt?“, fragte er sich, „Habe ich eine Wahl?“, war die nächste Frage, die ihm durch den Kopf schoss. Von der Abfindung und dem Arbeitslosengeld konnte er noch eine Weile ganz gut leben, ein Jahr, vielleicht zwei. Doch was sollte er danach tun? Und was sollte er mit seinem Leben anfangen in diesen ein bis zwei Jahren? Außerdem wurde er nicht jünger. Die Chancen wieder einen Job zu bekommen, sanken beständig. Nein, sich auf die faule Haut legen, wollte er sicher nicht. Er tippte die offene Bewerbung fertig und druckte sie aus. So ging das noch weitere neunmal. Danach alles kuvertiert, Briefmarke aufgeklebt und Empfänger, so wie Absender angegeben. Fertig.
Er lehnte sich zurück und atmete einmal tief ein. Ein Spaziergang würde ihm jetzt gut tun. Dabei konnte er auch immer besser nachdenken und gleich die Briefe zur Post bringen. Er holte seine Jacke von der Garderobe, packte Haustürschlüssel und Briefe zusammen und machte sich auf den Weg. Wie ferngesteuert ging er die Straße in Gegenrichtung zum Stadtzentrum hinunter. Sein Gefühl sagte ihm, dass er in der alten Allee am Stadtrand besser abschalten können würde.
Alles in allem war es eine wunderschöne Kleinstadt. Keinen Tag bereute er, dass er vor eben knapp 15 Jahren hierher gezogen war. Der Wind war kalt Mitte Januar, aber das machte ihm nichts aus. Seine Gedanken schweiften in der Vergangenheit. Von Abenden mit Kollegen über die zahlreichen Spaziergänge in eben dieser Allee, ob allein oder zu zweit, bis hin zu seinen ersten Streifzügen in der damals noch neuen Stadt. Aber bis auf jene Momente hatte sich nicht viel verändert. Irgendwann war es auch hier Alltag geworden, mit dem gewohnten Alltagsstress. Gearbeitet hatte er immer, als ob es kein Morgen gäbe. Doch hatte er auch so gelebt, als ob es kein Morgen gäbe?
Mit dieser Frage im Kopf bog er von seiner geliebten Allee in eine Seitenstraße, die ihn auf die Hauptstraße führen würde. Nach ein paar hundert Metern las er an einem Gebäude ein Plakat mit der Aufschrift „Helfer gesucht! Wir suchen ehrenamtliche Mitarbeiter für unsere Mittagsküche. Bei Interesse sprechen Sie uns einfach direkt an!“. Er sah die Fassade hinauf. Dort hing ein Banner „Obdachlosenheim – Kostenlose Mittagsküche für Bedürftige“. Er wusste nicht genau warum, doch er ging hinein. Es war bereits 18 Uhr und darum nicht allzu viel los. Neugierig sah er sich um. Der Raum war relativ groß. Überall standen Bierbänke, die wohl auch schon einige Jahre auf dem Buckel hatten. An einer Seite war eine lange Ausgabetheke mit Durchgängen nach hinten. „Dort muss die Küche sein.“, dachte er sich. Während er sich umsah, kam eine Frau auf ihn zu und er war noch in Gedanken, als sie ihn ansprach: „Hallo, kann ich ihnen helfen? Ich bin Frau Lindner. Ich leite diese Einrichtung. Sie sehen nicht so aus, als wären Sie wegen einem Schlafplatz hier.“ Verdutzt sah Herr Winzel sie an. „Ähm ja, ich habe das Plakat draußen gelesen und bin einfach mal herein gekommen.“, war alles, was er herausbrachte. „Na dann, herzlich Willkommen. Sehen sie sich ruhig um. Ich bin in der Küche, wenn Sie mich brauchen.“, antwortete sie mit einem Lächeln auf den Lippen, das sein Herz sofort schneller schlagen ließ und schon war sie wieder verschwunden. „Obdachlosenheim“, dachte Herr Winzel bei sich, „Warum nicht? Zutun habe ich gerade sowieso nichts und ich kann etwas Sinnvolles tun. Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee.“ Er beschloss nicht weiter nachzudenken und ging quer durch den Raum zu der Tür, durch die Frau Lindner verschwunden war. Sie unterhielten sich eine Weile und sie zeigte ihm auch den Rest der Einrichtung.
Direkt am nächsten Tag begann er, als Koch mitzuarbeiten. Nach einigen Wochen konnte man dank Spenden sogar eine 400-Euro-Stelle aus seinem Ehrenamt machen. Herr Winzel und Frau Lindner kamen sich mit der Zeit immer näher und wurden schließlich ein Paar.
So führte ihn eine vermeintlich düstere Passage seines Lebens in eine neue, wie er sie sich niemals hätte erträumen können, und auch wenn es wieder dunkler werden sollte am Horizont des Lebens so hatte er jetzt doch eine völlig neue Grundlage und auch einen tieferen Sinn in seinem Leben gefunden.
Passagen finden sich, wortwörtlich, überall in unserem Leben. So unterschiedlich auch ihre konkrete Bedeutung sein mag, haben sie doch alle, wenn auch manchmal nur indirekt, eines gemeinsam: Sie bringen uns weiter und ab und an führen sie uns sogar.
Mit fast jeder Art von Passage verbinden wir meistens auch Erinnerungen. Ob das eine Reise, ein Abschnitt aus einem besonderen Buch oder ein Teil unseres vergangenen Lebens ist. Das werden Sie auch festgestellt haben, wenn sie auf die Bilder geachtet haben, die Ihnen zu jeder Passage dieses Textes in den Sinn kamen.
Passagen sind also etwas sehr Wichtiges und wenn man sich Gedanken über ihre Vielfältigkeit macht, so wird man erstaunt sein, wohin einen diese Reise auf den Spuren eines, vermeintlich alltäglichen, Wortes führen kann.